Berlin. Dr. Robert Williams ist ein US-amerikanischer Historiker und Antisemitismusexperte. Er führt die von Steven Spielberg („Schindlers Liste“) gegründete USC Shoa Foundation.
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Mr. Williams, die Shoa Foundation wurde vor genau 30 Jahren von Steven Spielberg nach seinen Dreharbeiten von „Schindlers Liste“ gegründet. Wie viel Spielberg steckt heute in der Stiftung?
Steven Spielberg forcierte und überwachte die Sammlung von Zeugenaussagen der Überlebenden des Holocaust sehr engagiert – obwohl er selbst täglich viel zu tun hatte. Innerhalb von vier Jahren hatten 50.000 Schoah-Überlebende vor seinen Kameras Zeugnis abgelegt. Dies ist eine außergewöhnliche Leistung und ein enormer Aufwand.
2006 wurde ihm klar, dass wir zwar all diese Daten haben, aber nun einen Weg finden müssten, um Forschungs- und Bildungsmöglichkeiten anzuschieben. Aus diesem Grund gab er die Stiftung in die Hände der University of Southern California (USC), an der ich arbeite. Wir sind eine unabhängige Einrichtung, aber Steven ist weiterhin an unserer Arbeit beteiligt.
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Was hat sich verändert?
Im Laufe der Jahre hat die Stiftung eine enorme Bildungsplattform aufgebaut, vor allem für Schüler der Sekundarstufe. Ich wurde gebeten, unsere Arbeit wieder auf die Schoah auszurichten, da es nur noch wenige Überlebende gibt und sich die Art von Gedenkkultur verändert. Außerdem haben wir ein Zentrum gegründet, das sich mit der Erforschung des Antisemitismus befasst. Die Stiftung ist also sehr viel forschungsorientierter als in der Vergangenheit. Sie ermittelt dabei auch Zeugnisse anderer Völkermorde.
Trotz der Fokussierung auf die Schoah?
Ja, wir haben inzwischen eine sehr große Sammlung aus Ruanda, eine sehr große und äußerst wichtige Sammlung von Überlebenden des von den Osmanen verübten Völkermordes in Armenien und kleinere Sammlungen anderer Völkermorde. Wir entwickeln eine Sammlung zu den Erfahrungen der äthiopischen Juden, bei denen es Überschneidungen mit der italienischen Besetzung Äthiopiens gibt.
Während wir unsere zentrale Holocaust-Sammlung erweitern, bauen wir also die Sammlungen der Überlebenserfahrungen derjenigen auf, die mit den sowohl von den Nazis als auch von mit ihnen kollaborierenden Staaten begangenen Gräueltaten in Zusammenhang stehen. Da geht es etwa um Kroatien, Rumänien, Ungarn, die Slowakei oder Italien.
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Dr. Robert J. Williams ist der Finci-Viterbi-Exekutivdirektor der USC Shoah Foundation.
Ist dies von Historikern nicht gut genug ausgeleuchtet worden?
Die Geschichtsforschung hat enorm viel über Ereignisse herausgefunden. Uns interessiert die Opfersicht. Die Herausforderung besteht darin, unsere Sammlung in Bezug auf die von den Nationalsozialisten und ihren Kollaborateuren verübten Verbrechen zu betrachten. Wir haben zum Beispiel die meisten Zeugnisse von jüdischen Überlebenden. Wir haben jedoch entschieden zu wenige Zeugnisse aus der Roma-Gemeinschaft, wo die Zeitzeugen auch immer weniger werden. Wir suchen Zeugenaussagen von katholischen Polen, von ethnischen Serben, die Opfer der kroatischen Ustascha waren. Also: viel Arbeit.
Im Moment sammeln Sie Zeugenaussagen der Überlebenden des Hamas-Massakers am 7. Oktober 2023. Warum?
Dabei geht es um unsere Sammlung, die sich auf den zeitgenössischen Antisemitismus konzentriert, den Judenhass nach 1945. Sie wird 10.000 Zeugnisse umfassen und ist in fünf Teile gegliedert. Ein Teil konzentriert sich auf die Überlebenden von Terroranschlägen, die von antijüdischem Hass motiviert sind. Dazu zählen natürlich die Hamas-Anschläge in Israel. Wir sahen uns nach dem 7. Oktober in der Verantwortung, diese Zeugenaussagen schnell aufzunehmen. Wir haben 400 aufgenommen. Insgesamt gibt es aber eine Liste von mehreren Hundert Anschlägen, die wir abarbeiten müssen.
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Steven Spielberg erhielt 2023 den Goldenen Bären der Berlinale für den Film „The Fabelmans“.
Quelle: Getty Images
Jetzt herrscht in Gaza Krieg, und Israel schlägt wegen seiner Kriegsführung viel Kritik und Ablehnung entgegen. Was denken Sie über die Situation dort?
Tatsache ist, dass es nur einen Grund für den gegenwärtigen Konflikt gibt: die Angriffe der Hamas am 7. Oktober 2023. Israel ist mit seiner Armee nicht in den Gazastreifen gegangen, weil dem Land so war, sondern als Reaktion auf einen massiven Terrorakt. Aus US-amerikanischer Sicht ist er das Äquivalent zu den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York und Washington.
Das Ausmaß der zivilen Opfer ist in einem solchen Konflikt immer schrecklich. In diesem Zusammenhang denke ich auch an die US-amerikanische Reaktion auf den 11. September, bei der die Zahl der zivilen Opfer angesichts der Art der Kriegsführung in den Städten noch viel höher war.
Haben Sie Verständnis für Proteste gegen das Vorgehen Israels?
Es gibt immer einen guten Grund, gegen einen Krieg zu protestieren. Die israelische Öffentlichkeit protestiert ebenfalls gegen die Durchführung dieses Krieges. Allerdings sind weltweit viele Proteste in antisemitische Parolen und Handlungen umgeschlagen. Dafür fehlt mir das Verständnis.
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Wo hört die Kritik an Israel auf, und wann beginnt der Antisemitismus?
Wer alle Juden für die Handlungen der israelischen Regierung verantwortlich macht, der betreibt eine Form von Antisemitismus. Ein weiteres Beispiel ist, Kritik an politischen oder militärischen Entscheidungen Israels so zu formulieren, dass Sie alte antijüdische Stereotypen aufgreifen, wie den Glauben, Juden wollen nur Kinder töten und sich am Leid anderer erfreuen. Das ist etwas aus dem Mittelalter.
Es wird sogar behauptet, die Unterstützung Israels durch die USA hänge an der jüdischen Kontrolle der Medien, der Politik oder der Wirtschaft. Jedoch die Politik der israelischen Regierung zu kritisieren, das ist nicht unbedingt antisemitisch. Das ist sogar etwas, was ein großer Teil der israelischen Bevölkerung vor dem 7. Oktober getan hat und weiterhin tut.
Eine israelische Demonstrantin weint während einer großen Kundgebung in Tel Aviv, die von Angehörigen und Unterstützern von Geiseln gegen die Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu abgehalten wird.
Quelle: IMAGO/Middle East Images
Sie gelten als scharfer Beobachter des Aufstiegs rechtsextremer Parteien in Europa. Waren die Europäer zu lange gelassen angesichts der Entwicklung?
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Nein, das finde ich nicht. Schon vor den Terroranschlägen von 2015 in Frankreich hat Europa in vielerlei Hinsicht proaktiver auf Formen von Antisemitismus reagiert als Nordamerika. Seit 2015 wurden in den einzelnen Ländern Aktionspläne gegen Antisemitismus entwickelt, es wurden offizielle Regierungspositionen geschaffen, um sich mit Antisemitismus zu befassen.
Sie sehen das in ganz Europa, und es gibt den EU-weiten Aktionsplan gegen Antisemitismus und zum Schutz jüdischen Lebens. In den USA existiert nichts Vergleichbares. Auch wenn es in Europa nicht perfekt gelaufen ist, denke ich, dass die Ideale des europäischen Ansatzes ein gutes Modell darstellen.
Irritiert es Sie, dass sich Rechtspolitikerinnen wie Marine Le Pen oder eher autoritär eingestellte Regierungschefs wie Viktor Orban israelfreundlich geben?
Diese Taktik ist durchschaubar. Sie wollen damit ältere Formen des Antisemitismus, die es in ihren Parteien oder Gesellschaften immer noch gibt, kaschieren oder muslimische Gemeinschaften angreifen, was ebenfalls völlig inakzeptabel ist. Marine Le Pen ist solch ein Beispiel. Sie versucht, Muslime in Frankreich auszugrenzen. In Ungarn meint die Regierung, ältere Formen des Antisemitismus, die vielleicht nicht vom Staat gesteuert wurden, aber in der Bevölkerung weiterlebten, seien kein Problem, weil sie doch eine positive Haltung zu Israel habe.
Und in den USA …
Bei uns funktioniert das ähnlich. Rechte Politiker wollen sich nur auf den Antisemitismus der Linken konzentrieren, Politiker auf der linken Seite wollen sich nur auf den Antisemitismus der Rechten konzentrieren. Tatsache ist aber, dass es sich um ein Problem handelt, das keine Ideologie kennt. Es ist auch in religiösen Milieus vorhanden. Ich bin katholisch. Es gibt viele strenggläubige Katholiken, die weiterhin an alte Formen antijüdischer religiöser Vorurteile glauben.
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Welche Verbindung gibt es zwischen weltweit wachsendem Antisemitismus und dem Abbau von Demokratie?
Ich antworte im US-amerikanischen Kontext. Die jüdische Präsenz ist hier sehr alt. Gewalt gegen Juden war lange äußerst ungewöhnlich. Der erste Mord an einem jüdischen US-Amerikaner geschah 1915. Die Zahl der Gewalttaten gegen Juden in den Vereinigten Staaten hat inzwischen erheblich zugenommen.
Seit 2014, dem Jahr eines großen Anschlags auf ein jüdisches Gemeindezentrum im Bundesstaat Kansas, ist eine Gemeinde nach der anderen betroffen. Geiselnahmen, Schießereien, Vandalismus, Brandbombenanschläge und andere Formen des Terrors. Das hat auf der einen Seite sicher mit unserer Waffenkultur zu tun. Dies korrespondiert jedoch ebenfalls sehr eng mit einem Rückgang des Vertrauens in die Demokratie.
Es gibt inzwischen viele Menschen, die in ihren eigenen vier Wänden recht glücklich sind, sich aber Sorgen darüber machen, was ihre Nachbarn tun und was ihre Regierung tut. Das sind sehr gute Voraussetzungen, um nach Schuldzuweisungen zu suchen.
Hier kommen die Juden ins Spiel?
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Wenn wir nach Schuldigen suchen, dann ist der Judenhass Tausende von Jahren alt und nicht weit. Das ist die einfachste Ausrede, die man benutzen kann. Wenn sich also die Menschen in den Demokratien voneinander trennen wie Wassertropfen von einem Parfümspray, dann führt das zu steigendem Antisemitismus und zum Niedergang der Demokratie.
Auch während der Weimarer Republik waren es nicht nur die Nationalisten, die Juden hassten. Es waren auch die Kommunisten, die antijüdische Gefühle kanalisierten, genau wie die Zentrumspartei oder die Katholiken. Es gab diese Momente, in denen das junge demokratische Regime nicht gefestigt war und der Judenhass zunahm. Um eine gesunde Demokratie zu haben, braucht man idealerweise gegenseitigen Respekt, Bewusstsein und Verständnis. Daran mangelt es zurzeit in vielen Staaten.
Wie ordnen Sie als Historiker die aktuelle Situation der Demokratien ein?
Ich denke, wir befinden uns in einem sehr schwierigen Moment in der Geschichte der Demokratien. Und die Zunahme des Antisemitismus ist nur ein Symptom. Die Zunahme anderer Formen des Hasses und der Intoleranz, einschließlich der Islamophobie, ist ein weiteres Symptom. Aber wir wissen, dass es schlimme Folgen hat, wenn Demokratien zusammenbrechen und Juden dafür verantwortlich gemacht werden – zunächst für Juden, dann aber auch für andere Gemeinschaften.
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Ich mache mir Sorgen, dass heute ähnliche Dinge passieren könnten wie in Deutschland im vergangenen Jahrhundert. Heute wird viel Verwirrung um den Antisemitismus gestiftet. Russland spielt seit fast 15 Jahren ein Spiel mit der Geschichte des Holocausts, jetzt gerade in der Ukraine. Einige Länder lehnen ihre geschichtliche Mitverantwortung ab oder stellen im Gegensatz dazu den Holocaust in den Vordergrund, um eigene Probleme zu verschleiern.
Hat der Antisemitismus heute ein anderes Gesicht als noch vor 90 Jahren?
Eigentlich nicht. Lange Zeit konzentrierte man sich dabei auf die Rechten, auch weil sie statistisch gesehen in den USA die meisten Terroranschläge verübten. Intellektuell wusste ich zwar immer, dass es linken Antisemitismus gibt, aber ich habe ihn noch nie so stark und so häufig erlebt wie in den letzten sieben Monaten.
Er ist genauso hasserfüllt wie das, was ich gesehen habe, als ich in der Mitte des Landes aufwuchs, wo der Ku-Klux-Klan sehr gefährlich ist. Und dieser Hass wird auch getragen von Universitätsprofessoren, von Politikern, von Journalisten, von der Linken und von der Rechten.
Unterstützer von US-Präsident Trump stehen am 6. Januar 2021 auf dem Gang vor der Senatskammer im US-Kapitol und bedrängen einen Polizisten (links), während Anhänger des damaligen US-Präsidenten Trump das Kapitol stürmen.
Quelle: Manuel Balce Ceneta/AP/dpa
Aber mit freundlichem Gesicht?
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Oh ja. Mit freundlichen Gesichtern und tadellos gekleidet. Sie wissen, wie man die richtigen Worte benutzt. Und genau das ist das Problem, denn es macht es normal, legitim. Ich empfinde das als beängstigend. Die Folgen könnten sehr katastrophal sein. Ich glaube nicht, dass wir schon am Ende sind. Ich finde jedoch, wir müssen überdenken, wie wir unsere Demokratie erhalten wollen.
Sehen Sie Deutschland hierbei in besonderer Verantwortung?
Die Deutschen haben sich aus historischen Gründen auf einen Prozess der Aufarbeitung eingelassen. Es gibt Lektionen und Praktiken, wenn es darum geht, die Vergangenheit zu verstehen und auf die Gefahren der Gegenwart zu reagieren, die Deutschland mit dem Rest der Welt teilen sollte.
Der Grund, warum wir wissen, dass der Antisemitismus in Deutschland in den letzten zehn Jahren zugenommen hat, liegt darin, dass ihn die Bundesregierung und die Ermittlungsbehörden verfolgen. Wenn man sich die Statistiken der Agentur für Grundrechte über Antisemitismus ansieht, stellt man fest, dass Deutschland, Frankreich, die Niederlande und einige andere Länder sich systematisch mit diesem Thema befassen. Andere haben da großen Nachholbedarf.
Mr. Williams, danke für das Gespräch.